Meine um 2 Jahre jüngere Schwester ist geistig und körperlich behindert. Das war für mich nie eine große Sache. Damit bin ich aufgewachsen. Auch mit den verständnislosen Blicken, dem Starren und dem Gefühl mich erklären zu müssen, wenn ich von ihr erzähle, weil ihr Humor sonst irritiert. Beim Gedanken an den Sommer - und welchem Thema ich mich da widme, fiel mir als erstes der Sager aus der Überschrift ein. So soll es sein. Diesen Monat werfe ich einen Blick in die Tabuzone Behinderung vs. "Spezialbehandlung"...
Sommer, Sonne, sichtbar
Ganz bösartig könnte ich sagen, dass der Sommer die Jahreszeit ist, in der Menschen mit Behinderung spätestens sichtbar werden, wenn mensch sie das Jahr über hinter Schloss und Riegel hält. Dabei ist das gar nicht soweit hergeholt. Ich erinnere mich an Zeitungsberichte als ich noch ein Kind war, in denen von Menschen die Rede war, die in Kisten eingesperrt wurden auf irgendwelchen Bauernhöfen. Das war nicht selten der Fall und sie hatten so gut wie immer in irgendeiner Form eine Behinderung vorzuweisen.
Überhaupt war der "Hausdodel" im ländlichen Bereich keine Seltenheit. Sofern körperlich in der Lage, wurden behinderte Menschen gerne für unbezahlte Arbeit eingesetzt. Als Dankeschön wurde teils auch schon mal ein Doppelliter gereicht. Der konnte für das Fehlen von Freizeit, sanitären Standards und frischer Wäsche schon mal hinweg trösten. In einer burgenländischen Buschenschenke, in der ich mit 16 im Sommer aushalf, war das zum Beispiel so. Und grade jetzt beim Schreiben wundert mich, dass mich das damals nicht gewundert hat. Vermutlich hielt ich diesen Umgang nicht für so ungewöhnlich, obwohl er in meiner Familie absolut nicht Usus war.
Ungewöhnlich war eher, dass meine Familie im Sommer mit dem VW-Bus in den Campingurlaub fuhr. Und zwar inkl. behindertem Kind. Ungewöhnlich
war, dass sich meine Mutter wie eine Löwin dafür kämpfte, dass meine Schwester noch ein Kindergartenjahr besuchen durfte, und noch eines, bis endlich eine
Integrationsklasse in der örtlichen Volksschule geschaffen wurde. Ungewöhnlich war, dass meine Familie kaum etwas davon abhielt, ein stinknormales Freizeitvergnügen
einzufordern und hi und da mal nach einer Ermäßigung zu fragen, wie etwa im Freibad. Darauf erhielt meine Mutter dann die Antwort: "Gehen Behinderte halt auch schwimmen?"
Ja tun sie. Behinderte Menschen fahren auch auf Urlaub.
WCs oder Waschkabinen für Menschen mit Körperbehinderungen gab es in den 80er Jahren noch selten bis gar nicht. Meine Schwester wurde im Schlauchboot gewaschen. Alle Beteiligten fanden das sehr lustig. Später gab es dann auch irgendwann mal mehr Komfort. Trotzdem frage ich mich noch immer, warum Männer mit Behinderung sich oft ihr WC mit Frauen ohne Behinderung teilen müssen/sollen.
Geschwisterkinder, Gedankenleserinnen und Schulzeit - im Juli
In all den Jahren, in denen mich das Aufwachsen mit meiner Schwester sehr geprägt hat, habe ich nie andere Geschwisterkinder kennengelernt. Als ich auf Mareice Kaiser gestoßen bin und ihren inklusiven Familienblog, überrumpelte mich ziemlich schnell ein Blogeintrag zum Filmtipp "Ich bin auch noch da, Mama!". Seither habe ich mich immer wieder mit der Frage beschäftigt, was wohl anders wäre und ob Geschwisterkinder sich anders entwickeln aus dem Gefühl heraus etwas kompensieren zu müssen. Meine Gedanken dazu hat Mareice im Artikel Schwesternliebe veröffentlicht.
Etwas Ähnliches in mir hat die Autorin Andrea Stift anklingen lassen. Sie schreibt wunderbar bösartige und auch gewitzte Texte über die Untiefen der menschlichen Seele. Schon beim ersten Lesen habe ich mich sofort verliebt. Und beim zweiten Lesen wollte ich sie gleich fragen, ob Sie Erfahrungen mit behinderten Menschen hat, weil ich noch nie so treffend Literarisches zum Thema gelesen hatte - Felix Mitterer hin oder her. Es stellte sich heraus, dass Andrea aus eigener Erfahrung weiß, wovon sie schreibt. Aus diesem Grund schenkt sie uns einen deftigen Text zum Thema mit dem Titel "I ♥ Irdning" und ein Interview.
Und weil innerhalb einer Familie sich die Meinungen oft mal decken, schreibt auch ihre Schwester Bibi Stift ebenfalls wunderbar, böse und treffend diesen Monat "Mettersdorf - egal" für krachbumm.
Weil ja - wie schon erwähnt die Schulzeit auch so ein Fall ist, der mit behinderten Kindern nicht immer gerade einfach zu meistern ist, und wo dann so Ideen auftauen, dass vielleicht in einer
Integrationsklasse weniger gelernt würde als anders wo (aus diesem Grund wechselten einige langjährige SchulkollegInnen meiner Schwester), gibt's auch ein Interview mit einer Integrationslehrerin, die außerdem noch tolle Kinderkleidung näht.
Welche schrägen Bemerkungen zum Thema sind euch schon mal begegnet?
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