„Was ist es denn?“ ist die wohl am häufigsten gestellte Frage, wenn ein Kind zur Welt kommt. Und meist stellt dies weder Eltern noch Mediziner*innen vor eine große Herausforderung. Was aber, wenn diese Frage nicht so ganz eindeutig beantwortet werden kann? – Gabriele Rothuber schreibt als Gastautorin über Intersexualität.
Mag.a Gabriele Rothuber ist diplomierte Sexualpädagogin, Sexualberaterin, systemische Traumapädagogin und –Beraterin, Intersex-Beauftragte der HOSI (Homosexuelle Initiative) Salzburg und Obmensch der PIÖ. 2014 hat sie die erste Tagung österreichweit zum Thema Intersex/Zwischengeschlecht organisiert.
Dieser Text birgt Triggergefahr!
Vielfalt als gesellschaftliche Norm
Rosa oder hellblau? Die Welt scheint für die meisten Menschen recht klar und eindeutig was das Thema biologisches Geschlecht betrifft. Ist sie aber nicht unbedingt. Immerhin kommt laut ISNA (Intersex Society North America) 1 von 100 (!) Neugeborenen mit Genitalien auf die Welt, die in irgendeiner Form nicht der „Norm“ entsprechen. Und Norm ist nicht erst seit den EU-Standards für Gurkenkrümmungen etwas, das wir definitiv hinterfragen sollten. Dennoch gibt es ständig Werbung und Wünsche zur Penisverlängerung und Schamlippenkorrektur, bei denen die als Mann oder Frau per Geburt diagnostiziert wurden und damit eigentlich eh schon der Norm entsprechen würden.
Rund 1-2 von 1000 Neugeborenen kommen jedoch mit eindeutig intersexuellen bzw. zwischengeschlechtlichen Genitalien auf die Welt, sprich: sie sind nicht eindeutig “weiblich” oder “männlich” oder haben Anteile beider Normgeschlechter. Das ist möglich, weil alle Babys ein weibliches Ausgangsgeschlecht haben. Dadurch kann man dann debattieren, wo eine vergrößerte Klitoris aufhört und was schon die Eichel eines Micropenisses ist.
Aber wie wird Geschlecht überhaupt definiert?
Insgesamt gibt es 5 sogenannte „Marker“
1. innere Geschlechtsorgane
2. äußere Geschlechtsorgane,
3. Keimdrüsen (Fortpflanzungsorgane),
4. Hormone
5. Chromosomen.
Medizin und Gesellschaft stellen ziemlich viele Erwartungen an menschliche Geschlechter.
Im “Ideal-Fall” hat ein “Mann” :
- XY-Chromosomen,
- Testosteron und Spermien produzierende Hoden in einem Hodensack unterhalb seines Penis,
- der bei der Geburt größer als 2,5 Zentimeter ist und in dessen Eichel die Harnröhre mündet.
- Sein Körper reagiert auf das Testosteron in der Pubertät mit Haarwuchs, Stimmbruch und Muskelwachstum.
Eine “Frau” sollte haben:
- XX-Chromosomen,
- Östrogene, Progesteron und Eizellen produzierende Eierstöcke,
- eine in eine Gebärmutter mündende Scheide,
- die unter der bei der Geburt weniger als 0,7 cm großen Klitoris liegt,
- sowie eine unter der Klitoris liegende Harnröhre.
- Der Körper reagiert auf die genannten Hormone mit der Produktion von Eizellen und Brustwachstum.[1]
Tja, und was, wenn da irgendetwas nicht so ganz der Größe / Norm / Vorstellung / Erwartung etc entspricht? Dann wird geschnitten.
Was/Wer nicht sein darf, wird genital verstümmelt
Obwohl diese Babys völlig gesund sind und in keiner Weise behandlungsbedürftig oder ein medizinischer Notfall werden pränatal diagnostizierte IntersexMenschen als “schwere Missbildungen” klassifiziert, die Eltern nicht zugemutet werden können und die deshalb zur Spätabtreibung freigegeben werden.[1]
So werden die meisten Betroffenen auch heute noch als Notfall behandelt – und frühzeitig medizinisch (chirurgisch/hormonell) einem der beiden Normgeschlechter “angepasst”: Das heißt
- man designt Babygenitalien,
- schneidet unwiederbringlich alles weg, was scheinbar nicht zum Körper gehört – und das sind oft gesunde, hormonproduzierende Keimdrüsen,
- was den Verlust der Fortpflanzungsfähigkeit sowie die Einnahme körperfremder Hormone ab Beginn zur Folge hat.
- “Vergrößerte” Klitoriden werden amputiert,
- Neovaginen angelegt (hier werden Kinder ab Babyalter mit Scheidenkonen penetriert),
- Harnröhren verlegt,
- im Bauchraum liegende Hoden entfernt (Argument: “könnten Krebsrisiko in sich tragen” – engmaschige Kontrolle wäre hier eigentlich angesagt!) etc.
© Alex Jürgen #366days365 artworks
Diese körperlichen Traumata sowie die extreme Tabuisierung und Angst, entdeckt und geoutet zu werden, machen es vielen Betroffenen unmöglich, ein Leben ohne Schmerzen und Scham , ein Leben in Würde zu führen. Intimität ist für viele derart betroffene Inter*Personen nicht lebbar, Selbstmordversuche und –Gedanken prägen das Leben vieler.
Und wozu? Um eine scheinbare Zweigeschlechtlichkeit, eine binäre Geschlechterstruktur aufrecht zu erhalten, die schlicht nicht existiert! Es herrscht eine enorme geschlechtliche Bandbreite zwischen dem, was eingangs erwähnt von “Mann” und “Frau” erwartet wird. Doch das Wissen hierum ist nicht vorhanden. Die meisten Menschen gehen immer noch ganz selbstverständlich davon aus, dass es nur Mann und Frau gibt und geben darf. Intersexualität ist in unserer Gesellschaft extrem tabuisiert. Intersexualität bringt unser Weltbild ins Wanken. Und es verunsichert Eltern zutiefst, da sie meist noch nie etwas darüber gehört haben.[2]
Jedes Kind kommt mit seinem eigenen, individuellen Geschlecht zur Welt:
“Babies are born in a perfect way”.
Weshalb darf nicht sein, was ist?
Das Personenstandsgesetz
Derzeit muss in Österreich innerhalb von 2 Wochen nach der Geburt angegeben werden, ob ein Kind Bub oder Mädchen ist. Dieser Eintrag erfolgt dann im sogenannten Personenstandsregister. Da wir nur diese beiden Optionen haben, müssen auch IntersexKinder zugeordnet werden – sie müssen dazu jedoch nicht operativ “angeglichen” worden sein! Dies erleichtert es ihnen später immens, sich selber zu entscheiden.
2013 ist in Deutschland ein neues Gesetz bezüglich des Personenstandseintrages in Kraft getreten: Wenn nein Kind mit “uneindeutigen” Geschlechtsmerkmalen geboren wird, MUSS der Geschlechtseintrag offenbleiben. Das birgt die große Gefahr, dass Eltern diesem “Zwangsouting” entgehen möchten und ihre Kinder nun noch schneller medizinisch anpassen lassen, um eine Eindeutigkeit herzustellen.
Länder wie Nepal oder Australien bieten erwachsenen Menschen die Möglichkeit, neben männlich und weiblich auch noch ein “drittes Geschlecht”, “others” im Personenstand anzugeben.
„Weil beim Sport, also wie soll mensch denn sonst… also das geht doch nicht…“
Und wenn wir schon beim “Zwangsouting” von IntersexMenschen sind: Immer wieder gibt es Sportler*innen, die nicht eindeutig Mann oder Frau sind – und diese erfahren oft eine mediale Bloßstellung, die an das zur-Schau-stellen von “Hermaphroditen”, wie IntersexMenschen früher genannt wurden, auf Jahrmärkten erinnert: etwa Erik(a) Schinegger, die 1966 Weltmeisterin im Abfahrtslauf wurde. Vor den Olympischen Spielen 1968 wurde bei einem medizinischen Test festgestellt, dass Schinegger genetisch männlich ist.[4]
Oder 2009, als bei Caster Semenya, einer südafrikanische Mittelstreckenläuferin, eine Geschlechtsüberprüfung angeordnet wurde, weil sie „zu gut“ lief. Menschenrechtsaktivist*innen kritisierten diese Tests.
Wir alle kennen IntersexMenschen
Geht ruhig davon aus, eine IntersexPerson zu kennen, ohne es zu wissen. Darüber wird nicht gesprochen!
Denn: es betrifft viel mehr Menschen, als die, bei denen sofort nach der Geburt ein intersexuelles Genital auffällt. Der Großteil (rund 85%) der IntersexPersonen wird erst viel später im Lauf ihres Lebens “diagnostiziert”:
- z.B. in der Pubertät, wenn bei Mädchen die Regel ausbleibt oder sie in den Stimmbruch kommen;
- wenn Burschen die Brust [5] wächst oder sie eben keinen Stimmbruch bekommen;
- bei unerfülltem Kinderwunsch, wenn auf die Suche gegangen wird, woran dies liegen mag und Hormon- oder Chromosomentests ergeben, dass hier “irgendwas von der Norm abweicht”.
Das bedeutet Intersex ist ein Sammelbegriff für all jene Menschen, deren Geschlechtsmerkmale von medizinischen / gesellschaftlichen Normvorstellungen abweichen.
“Jedes Kind weiss, dass Schnecken Zwitter sind. Jedes Kind sollte wissen, dass auch Menschen Zwitter sein können[6]”, sagt Alex Jürgen, österreichischer IntersexAktivist und meint damit, dass die Thematik etwa auch in die Lehre von pädagogischen, beratenden, medizinischen und therapeutischen Berufen Einzug halten muss.
Und zwar nicht als Attraktion oder pathologische und deshalb behandlungswürdige “Störung”[7], sondern als Geschlechtsvariation. Die Thematik Zwischengeschlecht muss enttabuisiert und auch entdramatisiert werden.
Alle Menschen haben ein Recht auf körperliche Unversehrtheit.
Seit Jahrzehnten plädieren Inter*essensgemeinschaften dafür, Kinder so aufwachsen zu lassen, wie sie sind. Inter*Menschen sollen selbstbestimmt, voll aufgeklärt (auch über ihre Potentiale und Fähigkeiten, über die Möglichkeit, dass ein Leben “zwischen den Geschlechtern” lebenswert sein kann) und erwachsen darüber entscheiden können, ob sie etwas an ihren Körpern verändern möchten oder nicht.
Alles andere verletzt Menschenrechte, etwa das Recht auf körperliche Unversehrtheit, auf sexuelle Selbstbestimmung oder auch das Recht auf eine “offene Zukunft”.
Malta hat hier mit dem gesetzlichen Verbot der normierenden Geschlechtsanpassungen an Kindern vor kurzem ein Exempel statuiert, dem hoffentlich bald viele Länder folgen.
Hast du dir vor der Geburt deines Kindes über intersex Gedanken gemacht?
[1] entnommen: www.vimoe.at
[2] mehr Informationen hierzu: www.zwischengeschlecht.info
[3] Leider, denn in Geburtsvorbereitungskursen wird es ihnen ja auch selbstverständlich zugemutet, sich mit der Frage nach Nackenfaltenmessungen auseinander zu setzen. Sie erhalten jedoch keine Info, dass es sein könnte, ein völlig gesundes Kind zur Welt zu bringen, das nicht ins Zweigeschlechtersystem passt.
[4] Erik Schinegger: Mein Sieg über mich. Der Mann, der Weltmeisterin wurde
[5] Nicht zu verwechseln mit der vorübergehenden Gynäkomastie
[6] Der Begriff Zwitter sollte von Nicht-Intersex-Personen nicht (mehr) verwendet werden
[7] der derzeit in der Medizin verwendete Begriff DSD – Disorders of sexual Development – Störung in der Geschlechtsentwicklung wird von vielen Interessensgemeinschaften strikt abgelehnt.
Be informed:
Seit der Gründung des Vereins Intersexuelle Menschen Österreich 2013 ist es InterPersonen in Österreich möglich, in den Austausch zu gehen, Selbsthilfegruppen zu besuchen und sich Empowerment zu holen: www.vimoe.at
Gleichzeitig wurde die Plattform Intersex Österreich PIÖ gegründet, in der Wissenschafter*innen und Aktionist*innen gebündeltes Wissen zur Verfügung stellen, Tagungen organisieren, vernetzen etc. www.plattform-intersex.at
Buchempfehlungen:
Clara Morgen: Mein intersexuelles Kind: weiblich männlich fließend
Ulla Fröhling: Leben zwischen den Geschlechtern: Intersexualität - Erfahrungen in einem Tabubereich
Lila – oder was ist Intersexualität? zu beziehen unter www.intersexuelle-menschen.net (Kinderbuch)
Ursula Rosen: Jill ist anders. Ein Kinderbuch zur Intersexualität
Der Terminus Intersexualität wird oft abgelehnt, weil das Wort Sexualität im deutschen Sprachgebrauch oft mit „Begehren“ gleichgesetzt wird (homo-/hetero-/bisexuell) – bei Intersex handelt es sich jedoch nicht um eine sexuelle Orientierung, sondern um die sexuelle Identität. Inter*Personen können sich wahrnehmen als weiblich / männlich / „dazwischen“ / weder noch / etwas ganz Anderes....
Der Stern* (Asteriks) soll Raum für all jene Personen in der Schriftsprache öffnen, die sich dem Zweigeschlechtersystem nicht zuordnen können oder wollen.
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