Viele von uns sprechen manchmal flapsig von einem Kindheitstrauma. Andere wiederum leiden tatsächlich an einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Sexuelle Übergriffe sind meist traumatisierende Erlebnisse. Aber was ist ein Trauma genau und wovon hängt es ab, ob jemand traumatisiert ist/wird oder nicht?
Definitionen
Trauma bedeutet Verletzung. Eine Verletzung, die z.B. durch Extremsituationen wie Umwelt-katastrophen (Tsunami, Erdbeben, etc.), Geiselnahme, Vergewaltigung, sexueller Missbrauch, Folter, Kriegserlebnisse und vieles mehr entstehen kann. Auch der Tod eines nahe stehenden Menschen kann traumatisierend sein, ein Geburtserlebnis, ein Unfall oder anhaltende psychische Gewalt und Verwahrlosung.
„Traumatisierungen sind Bedrohungen für Leben und körperliche Unversehrtheit.
Psychische Traumata sind immer von Gefühlen intensiver Angst,
Hilflosigkeit und Kontrollverlust begleitet“
(Weiß 2008, S. 19)
„Anders als gewöhnliches Unglück bedeuten traumatische Ereignisse im Allgemeinen eine Bedrohung für das Leben oder die körperliche Unversehrtheit,
die unvermittelte Begegnung des Betroffenen mit Gewalt und Tod.
Durch traumatische Ereignisse ist der Mensch in extremer Weise
Hilflosigkeit und Angst ausgesetzt“
(Herman 2006, S. 54)
Als traumatisierend kann aber auch ein sexueller Übergriff empfunden werden, wie ihn Michaela Huber in Trauma und die Folgen. Trauma und Traumabehandlung, Teil 1 beschreibt:
Ein junges Mädchen holt die Post und muss dafür auf einen Schemmel klettern. Eines Tages geht ein Mann vorbei und greift ihr dabei plötzlich unter den Rock.
Noch Jahre später hat sie Probleme damit, auf Leitern zu klettern und Röcke anzuziehen. - Es kommt nicht darauf an, was andere als "schlimm" bewerten, sondern darauf, wie etwas erlebt wird.
Kinder und Erwachsene, die sexualisierte Gewalt erleben, werden mit großer Wahrscheinlichkeit traumatisiert.
Faktoren für eine Traumatisierung
Einige kennen vielleicht die Angst nach einem Verkehrsunfall, sich wieder in ein Auto oder aufs Rad zu setzen. Manchmal erleben wir die Szenen des Unfalls wieder und wieder, oft hilft es darüber zu sprechen und bewusst wieder am Verkehr teilzunehmen. Solche Erfahrungen sind meist einmalig und nicht beabsichtigt - ebenso wie Überfälle, Operationen, Naturkatastrophen, langfristige Trennungen und schwere Erkrankungen. Finden sie allesamt nicht in der Entwicklungsphase eines Menschen statt, wird vom Typ I Trauma gesprochen.
Von Typ II Traumata wird gesprochen, wenn Ereignisse andauernd, mehrfach und beabsichtigt auftreten und in der Entwicklungsphase eines Menschen stattfinden. Besonders im frühkindlichen Stadium sind diese Erlebnisse prägend. Dazu gehören z.B.:
- Emotionale Vernachlässigung, anhaltende Abweisung
- Körperliche, sexuelle und häusliche Gewalt
- Eine schwere (psychische) Störung der Eltern
- Unfälle, Krankenhausaufenthalte, schwere Krankheiten
- (Gewaltsamer) Tod eines Familienangehörigen
- Obdachlosigkeit, Flucht, Krieg, Naturkatastrophen
- Traumatisierung durch Trennung
- Sucht, Armut
- Transgenerationale Weitergabe (innerfamiliärer Missbrauch)
Generell sollte mensch jetzt nicht vergleichen, welche Traumata schwerer wiegen. Die Schwere einer Traumatisierung hängt immer vom Grad der Verarbeitung ab. Und mit dieser hängen wiederum die verschiedenen Umstände vor, während und nach dem Erlebten zusammen.
Der Grad der Verarbeitung
Zum Beispiel hat es nicht nur eine Auswirkung auf eine Traumatisierung und deren Verarbeitung, wie alt die betroffene Person ist, sondern auch die Qualität der zwischenmenschlichen Beziehungen, die sie umgeben hat Einfluss, die Beziehung zum/zur TäterIn, die Stärke der geäußerten Drohungen, das emotionale Klima in der Familie, die Schwere der Schuldgefühle, aber auch Begegnungsfehler.
Was die Heilung begünstigt
Eine spätere Heilung wird wiederum begünstigt durch kompensatorische Elternbeziehungen und überhaupt Halt gebende Beziehungen, sicheres Bindungsverhalten, Humor, Kreativität, überdurchschnittliche Intelligenz und z.B. ein robustes, aktives und kontaktfreudiges Temperament.
Was die Heilung erschwert
Besonders schwer kann ein traumatisierendes Erlebnis verarbeitet werden, wenn sich das Ereignis häufig und lang andauernd wiederholt, starke körperliche
Verletzungen damit einhergehen, sowie sexuelle und zwischenmenschliche Gewalt und sadistische Folter. Wenn eine enge Beziehung zum/r TäterIn besteht, es sich um mehrere TäterInnen handelt, das
Opfer noch keine gefestigte Persönlichkeit ausgebildet hat, stark dissoziert und niemanden hat, mit dem es über das Geschehene sprechen kann.
Diese Faktoren führen auch oft dazu, dass die betroffene Person an einer posttraumatischen Belastungsstörung erkrankt (PTBS).
Dissozieren? Was ist das?
Vielleicht kennst du das: Du fährst mit dem Auto eine Strecke, die du gut kennst. Du passt gar nicht richtig auf und schon bist du am Ziel. Dabei kannst du dich gar nicht erinnern, wie du hierhin gekommen bist. Das ist wie das "Narrenkastl-Schauen" eine Alltagsdissoziation. Generell können bei Dissoziationen die Gefühle und das was im Außen geschieht, nicht in Einklang gebracht werden. Dadurch sieht die Person sich möglicherweise von außen als unbeteiligte/r Dritte, kann sich selbst nicht spüren, weiß nicht, wie sie an einen bestimmten Ort gelangt ist, oder es übernehmen sogar verschiedene Persönlichkeitszustände die Kontrolle (= dissoziative Identität - früher als multiple Persönlichkeit bekannt).
Dissozieren ist ein Schutzmechanismus, der uns "einfrieren" lässt, wenn in einer als lebensbedrohlich empfundenen Situation Flucht oder Kampf nicht als Optionen zur Verfügung stehen. Wir verabschieden uns dann geistig von einer unerträglichen Situation und löschen sie möglicherweise sogar aus unserem Gedächtnis (zumindest im Moment). Das ist eine Art Verteidigungsreaktion, um ein traumatisches Erlebnis überstehen zu können. -
Allerdings kann dieser Mechanismus - sofern wir ihn "eingelernt" haben - sich auch im Alltag unbeabsichtigt wiederholen, wenn uns sogenannte "Trigger" (Auslöser) begegnen. Dissozieren kann aber auch ohne Trigger passieren.
Trigger können auch Flashbacks auslösen, also Erinnerungen, die wir verdrängt haben.
Viele Artikel im Internet, die von (sexualisierter) Gewalt handeln, schicken bereits im Titel oder in den ersten Zeilen eine "Trigger-Warnung" vorweg. Diese ist an die Opfer dieser Gewalttaten gerichtet, damit diese belastende Stresssituationen vermeiden können.
Ein Leben im Dauerstress
Viele von uns kennen Stress-Situationen im Alltag, andere wiederum haben sich wirklich schon mal so ausgebrannt gefühlt, dass nichts mehr ging. Totale Überlastung. Menschen die unverarbeitete Traumatisierungen mit sich herumtragen, weil sie zB als Kind sexualisierte Gewalt erlebt haben und noch nie mit jemanden darüber gesprochen haben oder das Erlebte verdrängt haben, sodass es erst im Erwachsenenalter über eine/n hereinbricht, stehen oft unter Dauerstress.
Der Stresslevel kann dabei so hoch sein, dass das Stresshormon Cortisol nicht mehr abgebaut werden kann. Eine erhöhte Reizbarkeit, Stimmungsschwankungen, Durchschlafschwierigkeiten, körperliche Unruhe, Konzentrationsschwierigkeiten und Wutausbrüche sind die Folge. Treten dann zusätzlich stressige Situationen ein, kann ein dissoziativer Zustand die Folge sein. Der Körper beamt sich weg, weil er sich "noch mehr" bedroht fühlt.
Im Jugendalter kann dieser Stresszustand plus kreisende Gedanken zu vermehrten Drogenkonsum führen, um der Gefühlswelt einen Dämpfer zu versetzen. Gleichermaßen hängen selbstverletzendes Verhalten und sich nicht spüren aufgrund von ständigem Dissozieren oder emotionale Taubheit als posttraumatische Belastungsreaktion ebenfalls miteinander zusammen.
Das österreichische Traumapädagogikzentrum bietet eine kostenlose Broschüre zum Download an, in der weitere Faktoren und Kennzeichen von posttraumatischen Belastungsreaktionen einfach erklärt werden. (Viele dieser Informationen habe ich auch für diesen Artikel entnommen).
Traumapädagogik statt Ritalin
Gerade die Traumapädagogik bietet einen wichtigen Ansatzpunkt für PädagogInnen unterschiedlicher Berufsfelder, weil sie gute Beispiele anbietet, wie mit Kindern und Jugendlichen umgegangen werden kann, die unter diesen Belastungen leiden. Dabei geht es noch nicht um Therapie, sondern um einen "erträglichen" pädagogischen Alltag für alle. Ist kein Vorwissen über Traumatisierungen und deren Auswirkungen vorhanden, werden Kinder und Jugendliche oftmals fälschlich mit ADHS diagnostiziert oder einfach als "schwierig". Das heißt jetzt aber nicht, dass alle ADHS diagnostizierten Kinder in irgendeiner Form traumatisiert wurden, aber es ist auch ein Erklärungsansatz.
Aus missbrauchten Kinder werden Erwachsene. Und dann?
Viele Menschen "funktionieren" nicht in unserer Leistungsgesellschaft. Heute diskutieren
wir darüber, früher wurde teils nur gesoffen. Die Generation unserer Großväter, die im Krieg und teils in Kriegsgefangenschaft waren hat sicherlich vieles nicht aufgearbeitet. Die
Traumaforschung ist noch recht jung. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde erstmals bemerkt, dass trotz physischer Heilung bei vielen Heimkehrern "etwas" trotzdem nicht in
Ordnung kam. Selbiges wurde auch bei den Veteranen des Zweiten Weltkrieges und des Vietnamkrieges beobachtet. Damit begann die Traumaforschung praktisch offiziell.
Freud hatte zwar zuvor auch schon die Erkenntnis, dass das Krankheitsbild der "Hysterie" mit frühen traumatischen sexuellen Erlebnissen zu tun
hätte, die Gesellschaft war damals aber noch nicht reif für diese Erkenntnis. Die zweite Welle der Frauenbewegung brachte schließlich wieder das Thema sexueller Missbrauch mit dem
Forschungsfeld Trauma in Verbindung.
Seither gibt es zwar Traumapädagogik und Traumatherapie, öffentlich diskutiert wird PTBS aber eher im Zusammenhang mit Krieg. Psychische Folgeerkrankungen von sexuellem Missbrauch oder anderen Trauma-Ursachen sind wenig bis gar nicht bekannt. Und dabei gibt es genug Erwachsene, die an
- Depressionen
- Angststörungen
- bipolaren Störungen
- Borderline-Syndrom
- Posttraumatischen Belastungsstörungen
- dissoziativer Identität
leiden. Sie alle haben sich das nicht ausgesucht. Aber ihr gesundheitlicher Zustand zwingt in vielen Fällen dazu, keiner regulären Arbeit nachgehen zu können, dementsprechend finanziell abhängig zu sein, demzufolge armutsgefährdet zu sein. Eine Traumatherapie dauert schon ein paar Jahre und kostet auch so einiges.
Vielen Erwachsenen, die schwer traumatisiert sind, ist gar nicht bewusst, dass sie traumatisiert sind und wundern sich, warum einfach alles voller Hindernisse und Stolpersteine ist; warum alles so schwer sein muss. Sie werden leicht und immer wieder krank, wurschteln so dahin und irgendwann platzt ein Flashback herein und nichts ist mehr, wie es vorher auch schon nie war.
Andere wiederum wissen immer schon, was das Problem ist/war, aber trotzdem sind ihnen die Hände gebunden in ihrem Kampf gegen Windmühlen. Die Folgen von Traumatisierungen haben Auswirkungen auf unser Denken, Fühlen, unsere Wahrnehmung und unser körperliches Erleben. Je früher wir traumatisierende Erfahrungen machen, desto eher sind sie prägend. Je weniger wir Menschen haben, die uns dabei zur Seite stehen, desto schwerer sind die Konsequenzen für jede/n einzelne.
Schlussstrich ziehen? Ist doch schon so lange her?
Überlebende von sexualisierter Gewalt brauchen eine Lobby, Solidarität und Respekt.
Es ist nicht ihre Aufgabe beständig zu kämpfen, sondern zu heilen.
Es ist die Aufgabe von allen anderen Gewalt zu verhindern.
Zum Weiterlesen:
Traumatische Erfahrungen können übrigens auch die Sexualität beeinflussen. Ganz egal, ob es dabei um sexualisierte Gewalt, Bindungsstörungen oder körperliche Grenzerfahrungen im Säuglingsalter geht. Im Artikel Soulsex - Sex ist nicht das Problem gehe ich näher darauf ein.
Kinder traumatisierter Eltern
Traumatisierende Geburtserfahrungen
Je nach dem welche Geburtserfahrung du gemacht hast, und wofür du Verständnis suchst, findest du hier ein paar Links, die dir Schicksalsgefährtinnen bieten können:
Meine Narbe (Film)
Roses Revolution (Globale Bewegung gegen Gewalt in der Geburtshilfe)
Nach dem Kaiserschnitt (Beratung in Wien)
Verzögerte Liebe (Erfahrung nach vaginaler Geburt)
Geburtstrauma - Flashback (persönlicher Bericht)
#selbstgeboren-Debatte mit vielen Statements und Links
Traumaprävention und Hilfe bei der Verarbeitung - für Kinder und Jugendliche
Auf einer Traumapädagogik-Tagung sind mir die Bücher von Peter A. Levine und Maggie Kline untergekommen. Sowohl Kinder vor seelischen Verletzungen schützen: Wie wir sie vor traumatischen Erfahrungen bewahren und im Ernstfall unterstützen können als auch Verwundete Kinderseelen heilen bieten zahlreiche Beispiele und Übungen um Kinder generell zu stärken aber auch um erste Hilfe zu bieten, um Traumata zu vermeiden - ganz egal ob es dabei um Unfälle oder sexualisierte Gewalt geht.
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